Gottes Neue Bibel

Der Grossglockner

Ein Evangelium der Berge

- Kapitel 11 -

Die Stärkung des Gemüts und der inneren Sehe in der Bergwelt

Was lehren und predigen die Berge denn noch?
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Was die Berge noch lehren und predigen, davon kann sich ein jeder unbefangen denkende Gebirgsbesteiger auf den ersten Blick überzeugen und in seinem Gefühle recht klar und deutlich die Worte vernehmen, welche also lauten dürften:
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,,Siehe uns an, du staubbelasteter Erdenpilger, wie frei und unabhängig wir von unsern hohen Scheiteln in die weite Ferne der Schöpfungen Gottes dahinblicken! Eine freie Luft weht um unsere Stirnen, und der Sonne Strahl bricht sich sanft über unsere hohen Rücken! Kein Grenzstein sagt hier dem Wanderer: ,Bis hierher und nicht weiter!`, sondern wo immer er seinen Fuß hinsetzt, betritt er seinen eigenen Boden. Denn von dem Boden, auf welchem er geboren ward, muß gesteuert werden; wir aber sind ohne Grenzsteine, und für unsere Scheitel wird keine Steuer entrichtet. Daher bist du, Wanderer, auf unseren Höhen völlig zu Hause!"
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Daß diese Worte vollkommen richtig sind, davon kann sich ein jeder leicht überzeugen, wenn er je solche hohen Triften der Gebirge betritt. Wie da seine Augen einen weitgedehnten Sehkreis bekommen, also bekommt auch sein Gemüt einen weitgedehnten Gefühlskreis, und dadurch werden seine Gedanken mit dem Gefühl vereinigt, und er, der vielleicht noch nie im Herzen gedacht hat, empfindet nun zum ersten Male, wie süß, lieblich und frei die Gedanken des Herzens schmecken, und um wie vieles weiter sie sich über den Horizont des gewöhnlichen Verstandes erstrecken.
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Wenn solches nun der Fall ist, wird es da nicht behaglicher in dem armseligen Kopf, da auch um seine Stirn freiere Lüfte aus dem hohen Reich der Geister wehen?! Und wird es nicht einheimischer und traulicher sein, sich allda zu befinden, wo die Strahlen des sonst so hitzigen Verstandes sanft gebrochen werden und sich nach solcher Brechung gar lieblich in das frei gewordene Herz hinabsenken?!
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Wo ist auf diesen Höhen ein Zollverein der Gedanken anzutreffen und wo eine Taxierkammer dessen, was da ist ein freies Eigentum des unsterblichen Geistes?! Wo ist da ein Grenzstein anzutreffen, über welchen die fühlende Seele nicht treten soll?!
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Ja, hier lernt der unbefangene Wanderer - wenn er nicht mit verstopften Ohren und verbundenen Augen solche Höhen betritt -, was das heißt: frei sein in der Höhe seiner Gedanken und in der Tiefe seines Gefühls, und wie selig es ist, wenn diese zwei sich unbefangen die Hände reichen können, und wie selig da der Gedanke an Gott ist, wenn Ihn der Wanderer aus der Tiefe seines Herzens frei bekennen und Ihn lieben und anbeten kann in dem freien großen Tempel der Unendlichkeit!
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Saget Mir, welcher nur einigermaßen innerlich geweckte Mensch wird nicht von diesem heiligen Gefühl beseelt sein, so er sich an einem heitern Morgen auf einer solchen geheiligten Höhe befinden möchte?!
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Der Mensch kann zwar auch in der Tiefe Heiliges und Großes denken; aber es geht ihm dabei, als wenn er mit ziemlich hungrigem Magen in einem Buche die Beschreibung einer guten Mahlzeit liest, bei welcher Gelegenheit ihm die wirkliche Mahlzeit ums Hundertfache lieber wäre denn hundert noch vortrefflichere Mahlzeitbeschreibungen, von denen er aber dessenungeachtet dennoch nichts abbeißen kann.
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Also ist auch auf solchen Höhen ein inneres Gefühl und die innere Wahrnehmung gerade um so viel kräftiger und mächtiger gegen das, was er in seiner Kammer empfindet, als um wieviel da kräftiger und mächtiger ist eine wirkliche Mahlzeit gegenüber einer beschriebenen. Oder welcher Mensch hat ein lebendigeres Gefühl: einer, der seine lebendige zukünftige Braut am Arme führt, oder derjenige, der sich dieselbe mit den allerschönsten Farben kunstgerecht entweder gemalt oder beschrieben hat? Sicher wird ein jeder die lebendige ergreifen und wird dem andern sein Gemälde und seine Beschreibung unangetastet lassen!
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Also ist es auch hier der Fall! Auf solchen Höhen findet der Wanderer gastfreundlichst dasjenige, was ihm in der Tiefe alle Mühe und Anstrengung nicht zu geben vermag. Daher ist es wohl gar gut und nützlich in jeder Hinsicht, sich zu öfteren Malen die Mühe nicht gereuen zu lassen, eine oder die andere Gebirgshöhe zu besteigen. Der Gewinn ist ja ein doppelter und reichlicher: Fürs erste werden dadurch alle naturmäßigen Lebensgeister gestärkt; jedoch ist dieser Gewinn der geringere, obschon eine Gebirgsbesteigung besser ist denn zehn Apotheken und ebensoviel der renommiertesten Ärzte. Bei weitem größer aber ist der Nutzen für den Geist, weil dieser eine so große Stärkung von seiner ursprünglichen Heimat aus bekommt.
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Wer von euch, so er Gebirge bestiegen hat, wird sich dessen nicht erinnern, daß ihm zwischen den hohen Alpen traulicher und heimlicher zu Gemüte war, als wenn er sich in einer noch so volkreichen Stadt befinden möchte?!
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Woher rührt denn solches Gefühl?
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Frage nur die Berge, und sie werden dir alsbald durch eben dieses Gefühl sagen: ,,Siehe, was dir dein inneres Gefühl - freilich wohl noch etwas dunkel - sagt, ist volle Wahrheit; denn hier bist du wahrhaft zu Hause, und zwar im Kreise deiner vielen Voreltern, welche sich in entsprechender Weise schon lange hier überselig befinden!"
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Sehet, solches alles lehren auch die Berge! Was lehren und predigen sie aber noch? Höret sie nur ferner an; sie wissen noch allerlei zu erzählen!
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Um euch solches, was da noch kommt, ein wenig näher vor Augen zu stellen, so will Ich euch auch eben aus einer solchen Gebirgsbegebenheit ein kurzes Histörchen zum besten geben:
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Es war einmal ein frommer Mann; er war an Jahren schon sehr vorgerückt. Dieser Mann hatte gar viele Prüfungen zu bestehen, und unter diesen Prüfungen war auch diese eine der stärksten, daß er bis auf seine jüngste nahezu zwanzig Jahre alte Tochter alle seine Kinder samt seinem ihm überteuren Weibe verlor.
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Also stand er nun allein mit dieser seiner Tochter da, ein Häuschen am Fuße einer bedeutend hohen Alpe bewohnend, bei dem sich eben so viele Grundstücke befanden, daß sie ihn und sein Töchterchen nebst einer bejahrten Magd und einem alten Knecht kümmerlich ernährten.
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Dieser Mann betete in Gesellschaft seines Töchterchens oft und viel zu Mir, weinte dabei auch viel um die Seinigen und hatte oft eine große Sehnsucht, ihnen bald nachfolgen zu können.
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Als er einmal an einem Sonnabend mit seiner Tochter nahezu über die Mitternacht hinaus gebetet und geseufzt hatte und er samt der Tochter betend und seufzend einschlief, da träumte es der Tochter, als sei sie mit dem alten Vater auf dem höchsten Gipfel der Alpe gestanden. Und wie sie da freudig um sich her blickte in die weiten Fernen hinaus, da bemerkte sie alsbald eine ganze Menge lieblich weißer Wölkchen der Höhe zuschweben, und als diese Wölkchen vollends zu der Höhe hinangeschwebt waren, da gewahrte sie alsbald, daß diese Wölkchen vollkommen menschliche Wesen waren. Diese Wesen waren anfangs verschleiert; aber bald lüfteten sie ihre Schleier, und sie, die Tochter nämlich und der alte Vater, erkannten sogleich überseligen Herzens, daß diese Wesen ihre vorangegangenen Teuren waren, von denen die Mutter alsbald zu ihrem geliebten Gatten trat, ihn herzte und koste. Der Gatte, als der Vater der Tochter, aber weinte vor übergroßer Freude ob dieses seligen Wiedersehens. Darauf aber begab sich die Mutter zur Tochter, küßte sie und sagte zu ihr:
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,,Liebe Tochter, also wie du dich mit deinem Vater jetzt allhier befindest, eben also sollet ihr euch beide morgen nachmittag hier befinden, da werdet ihr noch mehr sehen und empfinden denn jetzt; aber darob sollet ihr daheim nichts versäumen, was euch was immer für eine Ordnung der Dinge vorschreibt!"
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Nach diesen Worten erwachte die Tochter sogleich und weckte durch ihr Erwachen ihren noch schlafenden Vater, und da dieser den Anbruch des Tages merkte, so blieb er nach alter Gewohnheit auch sofort wach, stand auf, kleidete sich an und weckte dann auch das Hausgesinde. Nach dieser Arbeit aber begab er sich wieder in sein Zimmerchen, allwo er sein Töchterchen schon angekleidet und das Morgengebet verrichtend fand.
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Er segnete sein Töchterchen und küßte es, kniete dann selbst nieder und verrichtete mit ihm seine Morgenandacht. Als aber beide damit fertig waren, da standen sie auf, das Töchterchen umarmte seinen alten Vater und küßte ihn gar traulich und herzlich, so daß der Vater es ihm ansah, daß es übergewöhnlich fröhlichen und heiteren Mutes war. Er fragte es auch alsobald: ,,Mein liebes Töchterchen, wie kommt es denn, daß du heute gar so munter und fröhlich bist?"
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Das Töchterchen aber sagte zu ihm: ,,Aber lieber Vater, hat denn dir heute gar nichts geträumt?"
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Der Vater aber erwiderte: ,,Es kommt mir wohl vor, als hätte mir etwas geträumt; allein was, - das wäre mir unmöglich herauszubringen!"
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Das Töchterchen aber erzählte nun dem Vater seinen Traum, welchen er mit großer und sichtbarer Bewegung seines Gemütes anhörte und dann nach der beendeten Erzählung sagte: ,,Höre, mein liebes Töchterchen, was dir geträumt hat, das wollen wir heute auch in der Wirklichkeit ausführen!
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Daher wollen wir uns sogleich jetzt in der Frühe in die nicht ferne Kirche begeben, daselbst dem Gottesdienste wohlandächtigen Herzens beiwohnen, sodann zu Hause unser Mahl nehmen und uns dann in Begleitung unseres alten Knechtes hinauf auf die Höhe begeben. Wenn wir nur eine Stunde vor dem Mittage fortgehen, so sind wir bis zum Nachmittag um die dritte Stunde ja gar leicht auf der besagten Vollhöhe unserer herrlichen Alpe und können bei dieser Gelegenheit auch im Namen des Herrn nachsehen, was unser Hausvieh und unsere zwei Hirten da oben machen, und ob alles gesund und in gutem Zustande ist."
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Wie gesagt, also auch getan! Um 3 Uhr nachmittags stand unsere kleine Familie schon auf der Vollhöhe; wie aber das Töchterchen es im Traume gesehen hatte, so sah sie auch jetzt in der Wirklichkeit ganz gleiche Wölkchen sich gegen die Höhe begeben.
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Als diese Wölkchen näher und näher kamen, bemerkte sie auch der Vater und mit ihm auch der alte Knecht; und als die Wölkchen endlich vollends die Höhe umschwebten, da gestalteten sie sich auch alsbald zu den im Traume schon kundgegebenen Wesen.
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Als der alte Vater in diesen Wesen die Seinigen erkannte und sah, wie diese auch gar so liebend ihn umfingen, daß er darum nicht im geringsten mehr zweifeln konnte, daß das wahrhaft seine seligen Teuren seien, da weinte er laut vor Freude und dankte Mir mit dem inbrünstigsten Herzen, daß Ich ihm noch in diesem Erdenleben eine so große Seligkeit habe zukommen lassen.
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Nach solchem Dankgebet aber wurde seinem Geiste die innere Sehe völlig geöffnet. Da sah er alsbald die ganze Höhe verklärt und verwandelt in eine himmlische Gegend und sah da die herrlichen Wohnungen der Seinigen. Und aus einer Wohnung sah er einen Mann treten, der da hatte ein großes Gefolge; und dieser Mann begab sich geradewegs zu unserm alten Manne hin und sagte zu ihm:
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,,Sieh, mein lieber Sohn, wo es auf der Erde bunt und lebendig zugeht, da sieht es im Geiste leer und tot aus; wo es aber auf der Erde aussieht, als hätte der Tod für alle Zeiten seine Ernte gehalten, da ist es im Geiste um so lebendiger und lebensvoller!
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Siehe, auf den hohen Alpen wächst zwar kein Getreide, und es sind keine Weinberge, keine Fruchtbäume, wie auch keine Goldbergwerke anzutreffen, was aber dafür anzutreffen ist im Geiste, das siehst du jetzt im Geiste durch die Gnade des Herrn vor deinen Augen enthüllt!
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Du wirst noch eine kurze Zeit die Erde mit deines Leibes Füßen betreten; wachse aber in dieser Zeit in der Liebe zum Herrn! Und siehe dort neben meiner Wohnung einen zweiten herrlichen Palast; dieser ist schon für dich bestimmt und für die Deinigen, wenn du das Zeitliche verlassen und antreten wirst das freie, ewige Leben!"
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Bei diesen Worten erkannte unser alter Mann, daß dieser Redner sein irdischer Vater war, - nach welcher Erkennung das selige Gesicht alsbald verschwand. Unsere Wanderer behielten davon das lebendige, selige und stärkende Gefühl, priesen und dankten Mir darauf für solche erzeigte Gnade und kehrten sodann heiteren und gestärkten Mutes wieder in ihre irdische Heimat zurück.
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Der bisher traurige Mann verlebte dann die übrige Zeit noch recht heiteren Mutes und voll Liebe und Dankbarkeit zu Mir auf der Erde; und so sich seiner noch dann und wann eine überflüssige Schwermut bemächtigte, dann machte er, wenn es nur immer seine leiblichen Kräfte gestatteten, alsbald einen Besuch unserer vorbezeichneten Höhe, von welcher er allzeit wieder neu gestärkt zurückkehrte.
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Sehet, solche Geschichten erzählen auch die Berge, - wenn auch nicht für jedermann mit vernehmlichen Worten, aber desto mehr mit einer sehr wahrnehmbaren Einflüsterung in das Gefühl der Seele und durch diese auch zur Liebe des Geistes.
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Wenn ihr euch zufolge dieses Wissens bei guter Gelegenheit auf irgendeinen Berg von einer bedeutenderen Höhe begebet und euch daselbst solche Gefühle anwandeln, so könnt ihr daraus sicher schließen und sagen: ,,Ja, das sind wahrhaft heimatliche Gefühle! Wie süß und angenehm sind sie, und wie herrlich muß es sein für diejenigen, welche sich schon für ewig in diesem stillen Heimatlande befinden!"
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Denn ihr könnt es glauben, daß solche Gefühle nicht etwa allein Wirkungen der für sich dastehenden Höhen sind, sondern sie entstammen den euch umgebenden seligen Geistern, die gleich Mir euch vorangegangen sind, um für euch eine bleibende Stätte zu bereiten. Doch müsset ihr dabei etwa nicht einseitig sein und denken: ,,Dieser oder jener Berg ist es, wo solche Wohnungen im Geiste aufgerichtet sind!", sondern was hier gesagt ist, das gilt zumeist von jedem Berge, auf welchem die Grenzsteine des zeitlichen Eigentumsrechtes weit voneinander abstehen.
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Ähnliche Gefühle möget ihr wohl auch schon auf unbedeutend hohen Hügeln gewahren; aber lebendig werden sie erst da, wo die Axt des Holzhauers nichts mehr zu tun hat.
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Solches also erzählen, lehren und predigen auch die Berge. Was sie aber außerdem erzählen, lehren und predigen, das wollen wir noch in der vorletzten Mitteilung mit vieler Klarheit dartun; daher lassen wir es für heute wieder gut sein!

Fußnoten