Die Geistige Sonne
Band 2
Mitteilungen über die geistigen Lebensverhältnisse des Jenseits
- Kapitel 29 -
Fortsetzung der Wanderung. In gerader Linie, mit unwandelbar festem Willen, dem Ziele zu
Da sehet nur einmal hin - in die etwas tiefer gelegene unübersehbar große Ebene, die nach links und rechts, so weit nur immer das Auge reicht, von diesem bewaldeten Gebirge begrenzt ist! Was erblicket ihr in dieser Ebene? Sicher nichts anderes als ich: in einer sehr tüchtigen Entfernung ragt eine staffelförmige Rundpyramide überaus hoch empor. Man kann von dieser Entfernung außer einem Brillantglanze noch nichts Näheres ausnehmen. Aber dessen ungeachtet verspricht schon dieser erste Anblick etwas unerhört großartig Erhabenes, darum wollen wir denn auch hurtig darauf lossteuern, um uns so bald als möglich in der völligen Nähe dieses erhabenen Prachtwerkes zu befinden. Sehet, wir haben zwar keinen abgetretenen Weg, noch weniger eine Fahrstraße dahin; aber wenn ich diesen herrlichen Boden betrachte, welcher viel zarter und feiner aussieht als der allerfeinste Seidensammetstoff, da meine ich, braucht es keines abgetretenen Weges, sondern nur die Beobachtung der geraden Linie, und wir werden uns geistig schnellen Schrittes sobald dort befinden, wo wir sein wollen.
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Wisset ihr aber auch, was geistig genommen die gerade Linie bezeichnet? Die gerade Linie bedeutet oder bezeichnet den unwandelbar festen Willen, welcher durch keine noch so widrige Erscheinung auf etwas anderes abzulenken ist; und eben diese gerade Willenslinie soll auch hier gemeint sein.
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Ihr fraget zwar in euch, ob wir denn bei diesem Wege noch auf Hindernisse stoßen könnten, die uns die Erreichung des Zieles erschweren dürften? Das wird sich alles auf dem Wege zeigen. Bis jetzt ging es noch gut. Wir haben im Verlaufe unseres Gespräches schon eine ziemliche Strecke zurückgelegt, und so ich dorthin blicke, wo dieses außerordentliche Bauwerk sich befindet, da kann ich schon so manches genau ausnehmen, was ich ehedem von der Gebirgshöhe nicht imstande war.
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So kann ich nun schon recht gut ausnehmen, daß dieses außerordentliche Bauwerk aus zwölf Abteilungen besteht, die fast in der Art sich übereinander erheben, als wenn ihr auf der Erde ein ausgezogenes Fernrohr, natürlich von der allerriesenhaftesten Gattung, senkrecht aufgestellt hättet, welches Fernrohr eben auch zwölf Züge haben müßte. Und wenn ihr die Sache so recht betrachtet, da werdet ihr bald mit leichter Mühe entdecken, daß ein jedes dieser zwölf Stockwerke aus lauter aneinander gereihten Säulen besteht, und sehet ein jedes Stockwerk in einer anderen Farbe erglänzen.
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Aber wozu sich die Augen durch in die Ferne sehen verderben? - Wir werden das ganze Werk in der vollen Nähe ohnehin von Angesicht zu Angesicht betrachten können; daher gehen wir nur hurtig darauf zu. Aber ich merke, daß ihr eure Augen auf einen nicht mehr fern von uns abstehenden ziemlich hohen Wall richtet. Das hätte ja so den Anschein von einem bedeutenden Weghindernisse und einer Ablenkung von unserer geraden Linie, da wir einen Mauerbrecher nicht bei uns haben.
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Wenn die Mauer dieses Walles nach irdischem Maßstabe kerzengerade aufsteigt und unterhalb kein Tor angebracht ist, da dürfte es freilich wohl einen kleinen Haken haben, die gerade Linie fortwährend beizubehalten, und doch dürfen wir sie nicht verlassen; denn im Geiste nur um eine Linie auf die Seite gerückt, will so viel sagen, als mit einem Augenblicke diese ganze schöne Welt aus unserem Gesichtskreise verlieren. Aber wir sind ja noch nicht an der Mauer; daher den Mut nicht verlieren, und es wird sich die Sache vielleicht besser machen, als wir es erwarten.
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Ich bemerke aber nun auch vor dem Walle große und weitgedehnte Baumreihen, aus denen allerlei Säulen und Pyramiden emporragen. Es könnte da wohl sehr leicht geschehen, daß wir bei unserer geraden Linie auf einen Baum oder auf eine Säule stoßen und wären demnach genötigt, eines solchen Hindernisses wegen ein wenig von der geraden Linie abzubiegen.
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Ihr saget: Wie wäre es denn, so wir uns geistigermaßen in die Luft emporschwingen möchten, und durch diese am leichtesten in gerader Linie hinziehen zu unserem großartigen Ziele?
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Ich sage euch: Auch dieses könnten wir tun; aber dadurch setzen wir uns einer doppelten Gefahr aus, diese unsere Welt aus unserem Gesichtskreise zu verlieren, fürs erste, weil ein solcher Aufschwung eben auch eine Verletzung der geraden Linie ist, und fürs zweite dürfen wir ja so lange nicht unsere Füße von diesem Boden trennen, solange wir diese Welt beschauen wollen. Denn trennen wir unsere Füße vom Boden, so sinkt die ganze Welt unter uns in ihre erste unkenntliche Sterngestalt zurück. Daher bleibt uns nichts anderes übrig, als allen vorkommenden allfälligen Hindernissen mit fester Stirne zu begegnen!
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Nun sehet, die Baumreihen hätten wir bereits erreicht. Soweit als mein Auge in diesen Alleewald hineindringt, geht es überraschend geradlinig aus; aber dort recht tief darin erblicke ich etwas wie einen aufgerichteten Altar, und dieser Altar steht meines Erachtens gerade in der Mitte dieser Allee. Es macht aber nichts, nur mit fester Stirne darauf zu, und es muß sich der Weg gerade so machen, wie wir ihn haben wollen, denn es wäre für einen Geist doch wohl traurig, wenn er sich von naturmäßigen Hindernissen sollte den Weg verrammen lassen.
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Nun, da sind wir schon am Altare. Fürwahr, dieses erste Monument zeigt schon, wenn auch noch in einem entfernten Maßstabe, von welch einer unbeschreiblichen Pracht erst das Hauptwerk sein muß.
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Sehet diesen Altar! Er hat etwa eine Höhe von einer Klafter und besteht aus lauter Rundstäben, welche von einem überaus glänzenden Materiale angefertigt sind, das aber sicher auf keinem anderen Weltkörper in dieser Eigentümlichkeit vorkommt. Da seht nur einmal die Stäbe an; sie sehen ja nicht einmal fest aus, sondern haben das Ansehen, als wären sie lauter abwärts schießende Wasserstrahlen, welche aber ohne sogenannten Seitenspritzer abwärts in goldene Trichter schießen. Die flammende Strahlenbewegung in diesen Rundstäben zeigt beinahe solches an, als wären diese Stäbe nichts als nur runde Wasserstrahlen, welche etwa durch eine Mittelsäule von irgend her zuerst aufwärts, und hier, wie wir es sehen, nach den Regeln der Wasserbaukunst abwärts fallen. Um uns aber zu überzeugen, greifen wir mit den Händen nach den Stäben - sehet, das Ganze ist nur eine Eigentümlichkeit des Materials. Dieses hat in sich solche flammende Bewegung, daß es scheint, als wäre es ein reinstes fließendes Wasser; an und für sich aber ist es fest, als wäre es ein Diamant.
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Und da sehet über den Stäben die herrlich eingeländerte Rundtafel, wie sie strahlt, als hätte man im Ernste eine kleine Sonne auf diese aneinander gereihten Stäbe gelegt. Die Stäbe münden zuunterst in goldene Trichter ein, welche ebenfalls wieder in eine rot und blau schillernde allerherrlichste runde Kristallplatte eingeschichtet sind. Fürwahr, diesen Altar auf diesem schönen Rundplatze zu sehen, von den herrlichsten Bäumen in der schönsten Ordnung umfriedet, deren Äste oben wie riesige Arme zusammengreifen, ist an und für sich schon etwas so Bezauberndes, daß man es mit der größten Zufriedenheit eine geraume Zeit betrachten möchte. Dazu wenn man noch den wunderbaren grünen Sammetboden bedenkt und die Stämme der Bäume, welche das Ansehen haben, als wären sie lauter mächtige blaue, halbdurchsichtige Rundsäulen, an denen nicht der allerleiseste Makel zu entdecken ist.
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Was saget ihr denn zu dieser ersten Pracht? Ich muß es aufrichtig gestehen, daß mich diese erhabene Einfachheit mehr anspricht und fesselt, als alle schon vorher geschauten Herrlichkeiten dieser Welt. Wir vergessen bei der Betrachtung dieser Herrlichkeit aber ja ganz, daß wir noch weiterzugehen haben.
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Aber die gerade Linie, wie werden wir diese heraus bekommen?
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Sollten wir etwa diesen überherrlichen Altar möglicherweise niederrennen? Fürwahr, so etwas wäre beinahe nicht übers Herz zu bringen, und besonders wenn man obendrauf noch bedenkt, daß solch ein Werk viele Arbeit und vielen Fleiß von Menschenhänden dieser Welt vonnöten hatte und daß es sicher zu einem von dieser Menschheit geheiligten Zwecke dasteht. Und dazu noch ist das Zerstören überhaupt am allerentferntesten von der göttlichen Ordnung abstehend.
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Was werden wir demnach hier tun? Ihr saget: Als Geister durch die Materie rennen, was wird es denn sein? Ist doch der Herr auch durch die verschlossene Türe zu Seinen Aposteln gekommen.
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Ich sage euch: Das ist zwar wahr; aber wir sind nicht Herren, sondern Diener und Knechte des Herrn, diese aber dürfen nicht alles tun, was der Herr getan hat, außer der Herr wollte es. Daher weiß ich mir nun schon einen Rat. Wir werden uns an den Herrn der Herrlichkeit wenden, und zwar in der Liebe unseres Herzens, und ich bin überzeugt, es wird sich die gerade Linie gleich herstellen.
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Nun, ich habe solches getan und ihr nun in mir; und sehet, da eilt schon aus dem Hintergrunde ein männlich Wesen hervor, rührt soeben den Altar an, und dieser teilt sich bei der Mitte wie auseinandergehend, und wir können nun unsere Linie weiter verfolgen.
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Ihr fraget nun wohl, ob dieser Altar im Ernste solch eine mechanische Vorrichtung habe, daß er für ähnliche geradlinige Reisezwecke allzeit auf gleiche Weise teilbar ist? Ich sage euch: Für den Herrn ist alles in einem allerzweckmäßigsten Maße eingerichtet, die Menschen dürfen eine Sache noch so fest miteinander verbinden, der Herr aber ist der Werkmeister des Stoffes. Der Mensch weiß wohl um die Glieder seines Werkes, und wie diese zu trennen sind, aber der Herr kennt die Glieder des Stoffes und weiß auch, wie diese zu trennen sind.
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Daher brauchet ihr zur Beobachtung der geraden Lebenslinie nichts als die stets wachsende Liebe zum Herrn, und ihr werdet durch Felsen, Feuer und Wasser also wandeln können, als hättet ihr mit gar keinem Hindernisse zu kämpfen.
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Ich aber mache euch noch obendrauf aufmerksam: Habet recht wohl acht auf alle die Erscheinungen, die uns auf diesem Wege vorkommen werden, und ihr werdet am Ende so manche Verhältnisse eurer Welt darin wie in einem großartigen Zauberspiegel erkennen. - Nun aber steht vor uns schon wieder eine überaus weitgedehnte offene Allee in gerader Linie, und wir können daher wieder mit gutem Gewissen vorwärtsschreiten.
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Ihr möchtet wohl gerne wissen, was nun mit dem geteilten Tempel geschehen wird. Wird er sich wieder ergreifen, oder wird er also geteilt verbleiben? Ich aber sage euch: Verstehet mich wohl, und lasset das, was hinter uns ist; denn wir haben vor uns noch gar vieles und bei weitem Größeres. Wenn wir aber am Hauptziele sein werden, dann werden wir ohnehin von der Höhe einen allgemeinen Überblick erhalten. Und so lasset uns weiterziehen.